EuGH Urteil vom 10.09.2015: Für Arbeitnehmer ohne festen Arbeitsort gehört Fahrt zwischen Wohnort und erstem sowie letztem Kunden zur Arbeitszeit

Die Fahrten, die Arbeitnehmer ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen, stellen Arbeitszeit dar. Dies stellt der Gerichtshof der Europäischen Union unter Hinweis darauf klar, dass es dem unionsrechtlichen Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwiderlaufen würde, wenn diese Fahrten keine Arbeitszeit wären.

Die EU-Richtlinie definiert Begriff der Arbeitszeit.
In der europäischen Richtlinie 2003/88/EG ist die Arbeitszeit als jede Zeitspanne definiert, während deren ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Jede Zeitspanne, die keine Arbeitszeit ist, gilt als Ruhezeit.

Die Techniker an täglich variierenden zum Teil weit entfernten Einsatzorten eingesetzt.
Die Gesellschaften Tyco Integrated Security und Tyco Integrated Fire & Security Corporation Servicios (im Folgenden: Tyco) sind in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen zur Verhinderung von Diebstählen tätig. 2011 schloss Tyco ihre Regionalbüros und wies alle ihre Angestellten dem Zentralbüro in Madrid zu. Die bei Tyco angestellten Techniker installieren und warten Sicherheitsvorrichtungen in Häusern sowie industriellen und gewerblichen Einrichtungen in dem ihnen zugewiesenen Gebiet, so dass sie keinen festen Arbeitsort haben. Dieses Gebiet kann eine ganze Provinz oder einen Teil davon oder gelegentlich mehrere Provinzen umfassen. Den Arbeitnehmern steht jeweils ein Firmenfahrzeug zur Verfügung, um täglich von ihrem Wohnort zu den verschiedenen Arbeitsorten und am Ende des Tages zurück nach Hause zu fahren. Die Entfernung zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und ihren Einsatzorten kann beträchtlich variieren und manchmal über 100 Kilometer beziehungsweise bis zu drei Stunden betragen. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben verfügen die Arbeitnehmer jeweils über ein Mobiltelefon, mit dem sie aus der Ferne mit dem Zentralbüro in Madrid kommunizieren können. Am Vortag ihres Arbeitstags erhalten die Arbeitnehmer einen Fahrplan mit den verschiedenen Standorten, die sie an dem jeweiligen Tag in ihrem Gebiet aufsuchen müssen, und den Uhrzeiten der Kundentermine.

die Anrechnung der Fahrtzeit als Arbeitszeit fraglich.
Tyco rechnet die Fahrzeit „Wohnort-Kunden“ (das heißt die täglichen Fahrten zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und dem Standort des ersten und des letzten von ihr bestimmten Kunden) nicht als Arbeitszeit, sondern als Ruhezeit an. Sie berechnet die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Zeit zwischen der Ankunft ihrer Angestellten am Standort des ersten Kunden und ihrer Abreise vom Standort des letzten Kunden abstellt, wobei ausschließlich die Einsatzzeiten an den Standorten und die Fahrzeiten von einem Kunden zum anderen berücksichtigt werden. Vor der Schließung der Regionalbüros berechnete Tyco die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten ab der Ankunft im Büro (dem Zeitpunkt, zu dem die Angestellten das ihnen zur Verfügung gestellte Fahrzeug, die Kundenliste und den Fahrplan entgegennahmen) bis zur Rückkehr im Büro am Abend (dem Zeitpunkt, zu dem das Fahrzeug abgegeben wurde). Die mit der Rechtssache befasste Audiencia Nacional (Nationales Gericht, Spanien) fragt, ob die Zeit, die die Arbeitnehmer für die Fahrt zu Beginn und am Ende des Tages aufwenden, als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

EuGH: Die Fahrt zu erstem und Rückfahrt von letztem Kunden als Arbeitszeit zu werten.
Der EuGH stellt fest, dass die Fahrzeit, die Arbeitnehmer, die wie die Arbeitnehmer in der fraglichen Situation keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie darstellt. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer solchen Situation befinden, anzunehmen, dass sie während der gesamten Fahrzeit ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen. Die Fahrten der Arbeitnehmer zu den von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden seien das notwendige Mittel, um an den Standorten dieser Kunden technische Leistungen zu erbringen. Andernfalls könnte Tyco geltend machen, dass nur die für die Tätigkeit der Installation und Wartung der Sicherheitssysteme aufgewandte Zeit unter den Begriff „Arbeitszeit“ falle, was zur Folge hätte, dass dieser Begriff verfälscht und das Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigt würde.

Die Fahrtzeit steht Arbeitnehmern nicht zur freien Verfügung.
Dass Tyco vor der Schließung der Regionalbüros die Fahrten der Arbeitnehmer zu Beginn und am Ende des Tages zu oder von den Kunden als Arbeitszeit betrachtete, zeige im Übrigen, dass die Aufgabe, ein Fahrzeug von einem Regionalbüro zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zu diesem Büro zu führen, zuvor zu den Aufgaben und zur Tätigkeit dieser Arbeitnehmer gehörte. Am Wesen dieser Fahrten habe sich aber seit der Schließung der Regionalbüros nichts geändert. Nur der Ausgangspunkt der Fahrten wurde geändert. Die Arbeitnehmer stünden dem Arbeitgeber während der Fahrzeiten zur Verfügung. Während dieser Fahrten unterstünden die Arbeitnehmer nämlich den Anweisungen ihres Arbeitgebers, der die Kundenreihenfolge ändern oder einen Termin streichen oder hinzufügen könne. Während der erforderlichen Fahrzeit, die sich zumeist nicht verkürzen lässt, hätten die Arbeitnehmer somit nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen.

Die Arbeitnehmer müssen Folgen der Schließung der Regionalbüros nicht tragen.
Der EuGH ist ferner der Ansicht, dass die Arbeitnehmer während der Fahrten arbeiten. Bei einem Arbeitnehmer, der keinen festen Arbeitsort mehr hat und der seine Aufgaben während der Fahrt zu oder von einem Kunden wahrnimmt, sei auch davon auszugehen, dass er während dieser Fahrt arbeitet. Da die Fahrten nämlich untrennbar zum Wesen eines solchen Arbeitnehmers gehörten, könne sein Arbeitsort nicht auf die Orte beschränkt werden, an denen er bei den Kunden des Arbeitgebers physisch tätig wird. Dass die Arbeitnehmer die Fahrten an ihrem Wohnort beginnen und beenden, sei eine unmittelbare Folge der Entscheidung ihres Arbeitgebers, die Regionalbüros zu schließen, und nicht Ausdruck ihres eigenen Willens. Würden sie gezwungen, die Folgen der Entscheidung ihres Arbeitgebers zu tragen, liefe dies dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwider, das die Notwendigkeit einschließt, den Arbeitnehmern eine Mindestruhezeit zu gewährleisten.

EuGH Urteil vom 10.09.2015, Az.: C-266/14
Fundstelle: beck-aktuell, Nachrichten aktuell

Regelmäßige Arbeitszeit beträgt 40 Stunden

Fehlt eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Bestimmung des Umfangs der Arbeitszeit, ist die Klausel, der Arbeitnehmer werde „in Vollzeit“ beschäftigt, so auszulegen, dass die regelmäßige Dauer der Arbeitszeit 40 Wochenstunden nicht übersteigt.

Steht fest, dass Überstunden auf Veranlassung des Arbeitgebers geleistet wurden, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für jede einzelne Überstunde nicht in jeder Hinsicht genügen, darf der Mindestumfang der Überstunden vom Gericht geschätzt werden.

Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass es sich bei den vertraglichen Regelungen um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt. Die Regelung, dass der Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt werde, sei so auszulegen, dass die regelmäßige Dauer der Arbeitszeit – unter Zugrundelegung einer 5-Tagewoche und der in § 3 S. 1 ArbZG vorgesehenen 8 Stunden Arbeit täglich – 40 Wochenstunden nicht übersteigt.

Möchte der Arbeitgeber hingegen mit der Formulierung „in Vollzeit“ die nach geltendem Recht zulässige Höchstgrenze der Arbeitszeit ganz oder teilweise ausgeschöpft werden, müsse dies durch eine konkrete Stundenangabe oder zumindest eine hinreichend bestimmte Bezugnahme auf den arbeitsschutzrechtlich eröffneten Arbeitszeitrahmen klar und deutlich zum Ausdruck gebracht werden.

Nach Auffassung des Gerichts kommt es auf die Existenz einer betriebsüblichen Arbeitszeit nicht an, da sich die maßgebende Arbeitszeit durch Auslegung des Arbeitsvertrags ermitteln lasse. Eine solche könne auch nicht durch einseitige Anordnung des Arbeitgebers rechtsverbindlich begründet werden.

Das BAG geht weiter davon aus, dass eine Vergütungserwartung im Hinblick auf geleistete Überstunden bestehe. Dies ergebe sich jedenfalls daraus, dass im betreffenden Wirtschaftszweig die Vergütung von Überstunden sogar mit einem Mehrarbeitszuschlag von 25 % tariflich vorgesehen sei. Die Vergütung von Überstunden setze voraus, dass solche tatsächlich geleistet und vom Arbeitgeber veranlasst oder ihm zurechenbar seien.
Hierfür trage der Arbeitnehmer grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast. Allerdings könne das Gericht den Umfang geleisteter Überstunden schätzen, wenn der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für jede einzelne Überstunde nicht in jeder Hinsicht genügen könne und feststeht, dass Überstunden auf Veranlassung des Arbeitgebers geleistet wurden. Insofern wird die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgeweicht.

Urteil Bundesarbeitsgericht vom 25.03.2015 zum Aktenzeichen 5 AZR 602/13
Fundstelle: BeckRS 2015, 70150

Arbeitgeber muss in der Regel Verringerung der Arbeitszeit zustimmen

Regelungen zur Teilzeit, die zuungunsten des Arbeitnehmers vom Gesetz abweichen, sind unwirksam.

Der Arbeitnehmer hat grundsätzlich Anspruch auf Teilzeit. Diese darf nur mit zulässigen betrieblichen Gründen abgelehnt werden.

Der Arbeitgeber muss bei einem der Genehmigung der Teilzeitarbeit entgegenstehenden betrieblichen Grund die konkreten unverhältnismäßigen Kosten prognostizieren, die bei der Gewährung der Teilzeit anfallen würden, wenn er sich auf solche unverhältnismäßigen Kosten beruft.

Auch Betriebsvereinbarungen zu Teilzeit, die zuungunsten des Arbeitnehmers vom Gesetz abweichen, sind unwirksam.

Urteil Bundesarbeitsgericht vom 20.01.2015 zum Aktenzeichen 9 AZR 735/13
Vorschriften:
AÜG § 1
BetrVG § 77
BGB § 311 a
TzBfG §§ 8, 22
Fundstelle: beck-onbline, Fachdienst Arbeitsrecht 2015, 370234